ISSN:
1433-8491
Source:
Springer Online Journal Archives 1860-2000
Topics:
Medicine
Notes:
Zusammenfassung Die Beziehungen des Denkens zum Sprechen, der innersprachlichen Formulierung zur Sprachwahrnehmung und zum artikulierten Sprechakt werden angegangen vom Grenzfall des Taubstumm-Blinden, von den Erfahrungen bei aphasischen Taubstummen (Leischner) and den sprach-psychologischen Erkenntnissen, insbesondere der Auffassung A. Gehlens her. Es ergibt sich eine primäre, spezifisch menschliche psychische Potenz, ein virtuelles Sprechvermögen, das zur Realisierung neben einem Bedeutungsbewußtsein (für Zeichen, Symbole) irgendwelcher anschaulicher perzeptiver und expressiver Sinnesfunktionen bedarf. Dieses Sinnesfunktionssystem ist beim Gesunden das (Laut-) Sprech-Hörsystem, das aber im Falle des Ausfalls durch andere Funktionssysteme ersetzt werden kann. Die expressive Seite dieses Systems ist die Bewegung schlechthin, und zwar die sensorisch reflektierte Bewegung im Sinne Gehlens. Die Lautsprache ist nur eine Sonderform dieses spezifisch menschlichen (senso-) motorischen Systems, die sich impressiv des Hörens, expressiv der Sprachartikulation bedient. Alle Vorgänge der „inneren Sprache“, auch im Bereich des Denkens, sind unabhängig vom (Laut-)Sprech-Hörsystem möglich. Gedanken sind letzte Bewußtseinsgegebenheiten (O. Külpe, K. Bühler), Intentionen auf Bewegung nach Gehlen, die der sinnlichen Stütze nicht unbedingt bedürfen, jedoch anschaulich gestützt sein können und dies oft sind. Sind sie gestützt auf Sprachvorstellungen (neben anderen Sachvorstellungen), so erhalten sie erst ihre begriffliche Ausgestaltung. Diese Sprachvorstellungen brauchen aber nicht lautsprachlich zu sein, sie können, wie beim Taubstumm-Blinden, selbst der optischen Komponente entsagen und sich ausschließlich auf das Tast-Bewegungssystem stützen, wenn diesem in einer von der Lautsprache abgeleiteten Form (z. B. im Fingeralphabet oder in anderen alphabetischen Anordnungen) tastbare Wahrnehmungsgehalte zugeleitet werden. Sprache ist demnach sensorisoh zurückempfundene Bewegung und es ist notwendig, die Lautsprache in den größeren Zusammenhang der allgemeinen senso-motorischen Verflechtungen zu stellen. In der Sprachpsychologie ist dies — abgesehen von Gehlen — bisher nur andeutungsweise geschehen. In der Aphasieforschung finden sich stärkere Ansätze (u. a. bei Grünbaum, Liepmann, Leischner); systematisch durchgeführt ist es bisher nicht. Vorauszusetzen ist also, daß sich das virtuelle Sprechvermögen nur in der Regel auf das Sprech-Hörsystem stützt, daß aber andere — optischmotorische und taktil-motorische — Anschauungsbilder prinzipiell und in jedem Hirn zum gleichen kommunikativen Ergebnis führen können. Alle sprachlichen Formulierungsvorgänge, die dem motorischen Sprechakt voraufgehen und alle höheren Stufen des Sprachverständnisses (jenseits der gnostischen Verarbeitung von Höreindrücken) können ablaufen, ohne daß Lautsprachliches dabei mitwirkt. Diese Leistungen sind keine Eigenleistungen der Lautsprache. Die Lautsprache ist lediglich das als sinnliche Stütze geeignetste Medium zum Vollzug dieses überlautsprachlichen Vermögens. Diese Gedanken werden an einigen herausgegriffenen aphasischen Symptomen exemplifiziert, der Bewegungscharakter der Störungen dabei herausgehoben. Das menschliche Sprechvermögen ist eine psychische Funktion mit weitreichenden Potenzen und nicht lokalisierbar, das Bedeutungsbewußtsein darin ein überall hin wirksamer integrierender Bestandteil. Die daraus resultierende Reduktion der Funktionen, die dem sensorischen und motorischen Sprachfeld zugesprochen werden können, wird dargelegt.
Type of Medium:
Electronic Resource
URL:
http://dx.doi.org/10.1007/BF00344787
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